Bayern

Foto: Ursela Schwertl

Barrierefreiheit im Außenraum

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Die Bayerische Staatsregierung arbeitet seit 2013 intensiv daran, das Thema Barrierefreiheit voranzubringen und hat dabei vor allem Mobilität, Bildung und staatliche Gebäude, die öffentlich zugänglich sind, im Blick.

Wir haben uns mit Christine Degenhart, Präsidentin der Bayerischen Architektenkammer, und Oswald Utz, ehrenamtlicher Behindertenbeauftragter der Landeshauptstadt München unterhalten, wie dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden kann und wie weit sie den Prozess fortgeschritten sehen.

 

In fünf Jahren soll Bayern barrierefrei sein, das klingt sehr ambitioniert. Wie weit sehen Sie den Prozess schon fortgeschritten, was die Belange der Landschaftsarchitektur und Stadtplanung – also den Außenraum - angeht?

Christine Degenhart: Barrierefreiheit im klassischen Sinn, wie man es aus dem Hochbau kennt – also mit durchgängiger Erreichbarkeit und Nutzbarkeit – wird es weder in der Landschafts- noch in der Stadtplanung zur Gänze geben. Der Bestand macht durch Topographie, Besonderheiten des Naturraumes oder über Jahrhunderte gewachsene Stadträume entscheidende Vorgaben. Diese können meist nicht verändert werden. Und häufig ist eine grundlegende Veränderung auch nicht sinnvoll. Mit guten Ideen und Mut zu Kompromissen können jedoch für Menschen mit Behinderung und alte Menschen sukzessive, vor allem kontextorientiert Lösungen geschaffen werden, die (er-)lebenswert sind.

Oswald Utz: Es gibt einzelne Personen, die sich für unsere Anliegen einsetzen. Von einem allgemeinen Prozess kann nicht gesprochen werden, im Gegenteil. Nach wie vor ist meine Erfahrung, dass Landschaftsarchitekten*innen, die sich sehr für die barrierefreie Bauweise engagieren von den Kollegen*innen noch belächelt werden. Nur durch das Engagement qualifizierter Begleitung ist eine tendenzielle Umsetzung möglich. Die Zusatzausbildung zum Sachverständigen für barrierefreies Planen und Bauen haben nach meiner Kenntnis bisher nur wenige Architekten*innen absolviert. Ein kleiner Lichtblick und Unterstützung können diese Handlungsempfehlungen sein, die in München erarbeitet wurden.

Darf eigentlich Stadtgestalt gegen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen abgewogen werden? Wo es doch weder DIE gute Stadtgestaltung noch DIE Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung gibt. 

Oswald Utz: Eine gute Stadtgestaltung muss den Bedürfnissen aller Menschen Rechnung tragen. Dabei muss das Anliegen sein, die Bedürfnisse der unterschiedlichen Gruppen so zu integrieren, dass barrierefreie Gestaltung gleichzeitig auch ein Wohlbefinden bei den Nutzerinnen und Nutzern auslöst. Zwischen Gestaltung und barrierefreier Umsetzung gibt es für einen ambitionierten Planer keinen Widerspruch; vielmehr kann er kreative Lösungsmöglichkeiten erarbeiten und dabei den geltenden Normen zum barrierefreien Planen und Bauen Rechnung tragen. Da die Normen vorwiegend Schutzziele vorgeben, beschränken sie seine gestalterische Freiheit kaum.

Christine Degenhart: Die Gestaltung von öffentlichen Verkehrs- und Freiräumen ist stets ein Abwägungsprozess. Barrierefreiheit ist dabei ein Aspekt von vielen, teils höchst sicherheitsrelevanten Themen. Die vielfältigen Ziele sind im Planungsprozess so zu verarbeiten, dass ein tragfähiges, wirtschaftliches und im Sinne einer guten Stadtgestaltung ansprechendes Gesamtkonzept entsteht.
Es steht also nicht das Gegeneinander von Zielen im Vordergrund, sondern die Definition von Zielen und deren sinnvolle Umsetzung.

 
Modellkommune Starnberg, Georgenbachweg. Planung: t17 Landschaftsarchitekten GbR, München. Fotos (2): Roberto Simoni
Idealerweise sollte die Bauweise die Ansprüche der Nutzer und die der Gestaltung berücksichtigen.  Gibt es bereits gelungene Beispiele, die Sie beindruckt haben? Und wo existieren in der Praxis derzeit noch die größten Schwierigkeiten?

Christine Degenhart: Gelungene Beispiele – es gibt sie! Zu nennen sind etwa die Bemühungen vieler Kommunen, den öffentlichen Verkehrs- und Freiraum weitestgehend mit Barrierefreiheit für Blinde, Sehbehinderte und Mobilitätseingeschränkte gleichermaßen auszustatten. Bemerkenswert daran ist die Selbstverständlichkeit, mit der bei Umbau- und Sanierungsmaßnahmen die in den Gemeindeparlamenten beschlossene Barrierefreiheit realisiert wird. Auch Einzelprojekte sind zu nennen. Einige davon tragen das Signet Bayern barrierefrei, das die Bayerische Staatsregierung für konkrete beachtliche Beiträge zur Barrierefreiheit verleiht. Vor Kurzem konnte ich ein besonders gelungenes Projekt, auch im Sinne der Baukultur, besichtigen: die „Chinesische Mauer“ im Kurpark Bad Kötzting, geplant von lohrer.hochrein Landschaftsarchitekten und Stadtplaner GmbH  – ein rund 180 m langer Wall, der Teil einer barrierefreien Verbindung zwischen der südlichen Stadt und dem Kurpark ist und zusätzlich die Bahnstrecke mit einer kleinen Brücke verbindet. Die größten Schwierigkeiten in Städten und Gemeinden liegen nicht selten in einer fehlenden Gesamtschau. Ohne Bestandsanalyse, Maßnahmenpakete und deren Priorisierung bleibt Barrierefreiheit häufig Stückwerk oder wird erst gar nicht angepackt. Zuständigkeitsgrenzen sind und bleiben Realität. Kommunen können selbst bei optimaler Planung nicht davon ausgehen, dass die Eigentümer von Privatgrundstücken alle Vorhaben mittragen, die zu einer lückenlosen Erschließung erforderlich wären.

Oswald Utz: Es gibt einige Ansätze und Mut machende Beispiele. Aber gelungene Beispiele, die mich beeindruckt haben, kenne ich noch nicht. Vielleicht gelingt es uns jetzt im neu entstehenden Landschaftspark in München-Freiham. Der Entwurf stimmt mich erstmals zuversichtlich.

Wie beurteilen Sie das Thema Einheitlichkeit? Manche Verbandsvertreter fordern einheitliche Leitsysteme von Hamburg bis München - ähnlich der Deutschen Bahn. Aus Sicht der Nutzer ist dies nachvollziehbar, aus Sicht der Stadtgestalt weniger, da hierdurch regionale Bauweisen und Stadtgestalt unberücksichtigt bleiben. Ein Konflikt?

Christine Degenhart: Eine einheitliche Gestaltung ist bereits aufgrund der jeweils anzutreffenden örtlichen Besonderheiten kaum vorstellbar. Hinzukommt, dass Leitsysteme aus verschiedenen bereits vorhandenen baulichen Elementen, wie Gebäudekanten, Mauern, Leistensteinen oder anderen taktil erfassbaren Bauteilen bestehen. An Gefahrenpunkten, dazu zählen vor allem Querungen an Straßen, wird üblicherweise mit standardisierten Bodenbelägen gearbeitet, die mit einer entsprechenden Codierung auf die jeweiligen Nutzergruppen zugeschnitten sind. Auch um Lücken zu bestehenden Leitlinien zu schließen oder für Haltestellen des öffentlichen Personenverkehrs sind diese Beläge geeignet.
Viele Städte und Gemeinden starteten mit dem  Einbau entsprechender Systeme teils an unterschiedlichen Stellen im Ort und /oder zu einem Zeitpunkt als standardisierte Bauweisen noch in ferner Zukunft lagen. Das bedeutet: sie haben sich früh auf ein bestimmtes System festgelegt, das heute nicht einfach ersetzt werden kann. Deshalb entwickelten sich an vielen Orten eigenständige Lösungen, die sich stark an den regionalen Besonderheiten orientieren, was beispielsweise an der Materialwahl erkennbar ist. Nicht selten sind dabei natürlich auch schöne Beiträge zur Baukultur entstanden. Realistisch ist davon auszugehen, dass eine einheitliche Codierung innerhalb einer Stadt, oder vielleicht sogar innerhalb eines Landkreises, erreicht werden kann. Die Bewohner und Nutzer leben täglich damit und Gäste können sich über die Logik des örtlichen Systems bereits im Vorfeld ihrer Reise informieren, beispielsweise über das Tourismusportal.

Oswald Utz: Dort, wo Leitsysteme erforderlich sind und verlegt werden, setze ich mich für ein möglichst einheitliches System ein. Es kann nicht sein, dass jede Kommune ein eigenes System beispielsweise an Bushaltestellen oder Straßenquerungen praktiziert. Die Argumente der Stadtgestaltung sind für mich weder nachvollziehbar noch zu berücksichtigen. Niemand käme auf die Idee aus stadtgestalterischer Sicht in jeder Kommune eigene Ampelgestaltungen oder unterschiedliche Verkehrsschilder zu entwerfen.

Haben Sie schon eine Vorstellung, wie Barrierefreiheit im Außenraum nach dem  Zwei-Sinne-Prinzip 2023 funktionieren wird? Und: können Sie sich vorstellen, dass die neuen Technologien hier sehr bald innovative Leitsysteme ermöglichen werden, die bauliche Systeme überflüssig machen?

Oswald Utz: Die DIN 18040-3 Planungsgrundlagen zum barrierefreien Bauen im Öffentlichen Verkehrs- und Freiraum bietet Umsetzungsmöglichkeiten, die Planer*innen die Arbeit erheblich erleichtern.
Die neuen Technologien können derzeit nur ergänzend eingesetzt werden, da viele Nutzerinnen und Nutzer nicht über deren Zugänglichkeit und Nutzbarkeit verfügen. Auch in fünf Jahren wird es noch Menschen geben, die aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderungen technische Möglichkeiten nicht nutzen können oder wollen. Auch hier möchte ich nochmals meine Grundüberzeugung ansprechen: Eine barrierefreie Stadt ist eine menschenfreundliche Stadt und dies muss der Anspruch von Landschaftsarchtekten*innen sein.

Christine Degenhart: Das sogenannte Performance-Prinzip der Normenfamilie DIN 18040 beinhaltet genau diese Option: Die technischen Entwicklungspotentiale sind riesig, im Detail aber nicht exakt prognostizierbar. Daher muss eine Norm deren Anwendbarkeit implizieren. Erreicht wird das durch die Formulierung von Schutzzielen, die bei der Wahl der Mittel durchaus Spielräume lassen. Meines Erachtens wird einem großen Anteil der Menschen mit Behinderung durch die Digitalisierung vieles vereinfacht, manches überhaupt erst erschlossen werden. Die Abhängigkeit von Energie, von Funknetzen und die Verstehbarkeit der digitalen Informationen sollte uns aber nicht dazu verleiten, die gebauten Leitsysteme, die jeden Ort auszeichnen und unverwechselbar machen, zu vernachlässigen.

Terminhinweis
Am Donnerstag, 28. Juni 2018 veranstaltet der bdla Bayern in Kooperation mit der Bayerischen Architektenkammer einen ganztägigen Fachtag im Haus der Architektur zum Thema Barrierefreiheit im Außenraum. Programm / Anmeldung

Themenverweis
Die Bayerische Architektenkammer veröffentlicht in Kürze einen neuen „Leitfaden zum barrierefreien Bauen nach DIN 18040, Teil 3 - Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum“. Dieser kann kostenfrei bei der Geschäftsstelle bestellt werden, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Der Leitfaden und der Werkbericht der Obersten Baubehörde (Artikel-Nr: 03500177 / 03500181) können hier kostenfrei bestellt werden. 

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