Nachbericht: LAtalks. Salongespräche „Grün um jeden Preis (?)“ - Teil 2
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Wie es um den erforderlichen Paradigmenwechsel Straßenraum steht und wie sich der öffentliche Raum im Spannungsfeld von Mobilität und Klimaanpassung entwickeln sollte, waren die Diskussionsthemen der zweiten Ausgabe von LAtalks Salongespräche am 21. Februar 2024 in die Münchner Zwischennutzungs-Location und Mucbook Clubhaus „Perle“. Ein Zwischenfazit.
Die Komplexität des Themas spiegelte sich schon in der Besetzung des Podiums wider: Prof. Christine Hannemann (Architektur- und Raumsoziologie Universität Stuttgart), Christian Horn (1. Vorsitzender IGH e.V. – Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden Haidhausen), Felix Lüdicke (Landschaftsarchitekt, raumzeug – atelier für landschaftsarchitektur, München; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und öffentlicher Raum, Prof. Regine Keller, TU München), Mareike Schmidt (Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Autoreduzierte Quartiere für eine lebenswertere Stadt“ (MCube aqt) am Lehrstuhl für Urban Design, Prof. Dr. sc. ETH Ben Boucsein, TU München), Jörg Spengler (Vorsitzender und Radverkehrsbeauftragter im Bezirksausschus Au-Haidhausen) und Dr. Martin Schreiner (Leiter Geschäftsbereich Strategie, Mobilitätsreferat der Landeshauptstadt München) verhandelten in einer moderierten Diskussion das spannende und komplexe Thema, bevor im Anschluss auch das zahlreich erschienene Publikum eingebunden wurde.
• © Martin Augenstein
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Bereits die einleitenden Kurzstatements der Podiumsgäste deuten darauf hin, dass es weniger um die Frage gehen wird, ob ein Umdenken erforderlich ist, sondern vielmehr darum, wie der Paradigmenwechsel von Statten gehen müsse, um möglichst alle Betroffenen abzuholen. Es ginge nicht nur um die Sache, sondern auch um den Ton, sagt Martin Schreiner entschieden. Christian Horn, der seinen Ärger darüber zum Ausdruck bringt, „dass eine Vision von einer autofreien Stadt, von den Stadtpolitikern durchgedrückt wird, ohne das Gewerbe mit einzubeziehen“ plädiert für ein konsequentes Miteinander. Ähnlich argumentiert Felix Lüdicke, der die Rolle der Landschaftsarchitektur darin sieht, den Prozess partizipativ und prozessual anzustoßen und dabei die räumliche und atmosphärische Qualität nicht aus den Augen zu verlieren. Essenziell sei außerdem, dass die Stadtgestaltung den Menschen und nicht das Auto in den Mittelpunkt stelle. Nur so gelingt nach Ansicht von Jörg Spengler der Umbruch. Vor allem Mareike Schmidt und Christine Hannemann setzen auf die sozialen Aspekte und plädieren für eine lebenswerte und gerechte Stadt, die neue Möglichkeiten bietet für ein nachbarschaftliches Miteinander. So viel Konsens verleitet zu der Annahme, dass einem Umdenken nichts mehr im Wege stünde. Dass es dann aber doch nicht ganz so einfach ist, zeigt der Diskurs im weiteren Verlauf, als die Kriterien Mobilität, Lebensqualität, soziale Gerechtigkeit, Baukultur und Klimaanpassung detaillierter beleuchtet werden.
Zeit und eine partizipative Kommunikation scheinen wesentliche Faktoren für eine erfolgreiche Transformation zu sein
Zu Beginn richtet sich der Blick auf Haidhausen, denn Christian Horn tut seinen Unmut kund über die dort geplanten Maßnahmen zur Ausweitung der Fußgängerzone – ein Thema übrigens, welches bereits seit den 1970er Jahren immer wieder im Raum steht. Horn zufolge seien die Gewerbetreibenden vor vollendete Tatsachen gestellt und auf Ängste nicht reagiert worden. Ein Einbringen und Mitgestalten sei im Vorfeld nicht möglich gewesen und die Frage nach der Erreichbarkeit der Läden und Praxen sei nach wie vor ungeklärt. Jörg Spengler vom Bezirksausschuss Haidhausen begegnete der Kritik mit Verständnis, betonte aber auch, dass eine gute Lösung für alle Nutzergruppen gefunden werden müsse. Die Sorgen könne er nachvollziehen, jedoch sei es durchaus denkbar, dass sich die Situation auch für die Läden verbessern würde. Denn, wie Beispiele aus anderen europäischen Städten zeigen, ist die Kauflust bei den spazierenden oder flanierenden Passanten meist größer als bei im Pkw Vorbeifahrenden. Eben dafür soll eine Testphase implementiert werden, welche es erlaubt, die geplante Umgestaltung zu beobachten, zu evaluieren und mit den Betroffenen den Dialog zu suchen. Die größten Barrieren in dem angestrebten Transformationsprozess sieht Spengler in einer schwierigen Gesetzeslage und in unseren Gewohnheiten. Es sei nicht leicht, festgefahrene und seit Jahrzehnten gültige Denk- und Handlungsweisen zu ändern. Zeit und eine transparente und partizipative Kommunikation scheinen also wesentliche Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung zu sein.
Reallabore als Orte für den Aushandlungsprozess
In der Kolumbusstraße wurde letztes Jahr bereits eine solche Testphase durchgeführt. Mareike Schmidt vom Forschungsteam vor Ort sieht die gewonnen Erkenntnisse des Reallabors als eine Bereicherung. So konnten in dem normalerweise von Verkehr dominierten Raum plötzlich ganz neue Eindrücke und Wahrnehmungen entstehen: ein Begegnungsraum mit vielseitigem Nutzungsangebot, der eine Einladung an alle ausspricht, teilzuhaben und mitzugestalten. Natürlich sei damit auch eine große Umstellung einhergegangen, die sich durch neue Einflüsse und Geräusche bemerkbar machte. Nicht immer führte dies zu Zustimmung und auch Kritik blieb nicht aus. Dadurch entsteht ein Aushandlungsprozess, der vom Forschungsteam begleitet und dokumentiert wurde. An dieser Stelle betont Martin Schreiner vom Mobilitätsreferat, wie essentiell ein guter Kooperationspartner sei und lobt die engagierte Arbeit des Forschungsteams, welches „sich vor Kritik nicht wegduckte“ und trotz Widerstands das Projekt unermüdlich verteidigte und sich den provokativen Fragen der Presse stellte. Trotzdem sei der Wille zur Umgestaltung groß, denn über 70% der Anwohner in Haidhausen hätten gar kein Auto und auch parteienübergreifend sei man bereit mehr Lebensqualität herbeizuführen. Wenn nicht hier, wo dann ließen sich solche Prozesse anstoßen, so Jörg Spengler und betonte den Vorbildcharakter, welcher auch andere motivieren könne, sich zu trauen eine Veränderung herbeizuführen.
Die autoorientierte Stadt als Gewohnheitsproblem?!
Einen neuen nicht diskutierten Aspekt brachte der von Christine Hannemann mitgebrachte Videobeitrag zur sozialen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit ruhendem Verkehr ins Spiel. Die autoorientierte Gesellschaft sei ein Gewohnheitsproblem, sagt sie und untermauert dies mit einem Untersuchungsergebnis aus Stuttgart: dort seien die Parkmöglichkeiten der höchste Maßstab für Lebensqualität, denn Wohnen wird von der Mobilität hergedacht. Solche Assoziationen müssten dringend hinterfragt werden und die Diskrepanz von wachsender Bevölkerung und zugleich immer weniger werdenden Räumen erfordere ein Neuverhandeln. Sie warnt aber auch vor einer zu polarisierenden Diskussion und schwarz-weißen Denkmustern. Ein starker Realitätsbezug sei erforderlich, denn Überzeugung muss durch die eigene individuelle und alltägliche Erfahrung herbeigeführt werden.
Die Frage nach guten Beispielen führt nach Paris, wo durch eine konsequente Umgestaltung der Verkehr nicht komplett verbannt wurde, jedoch Fußgängern und Radfahrern Priorität eingeräumt wurde. Kopenhagen hingegen schaffte lediglich eine Verlagerung des Verkehrs in Tiefgaragen und weist trotzdem ein Defizit an Grün auf, nicht zuletzt aufgrund von Radautobahnen, welchen nicht wenige Bäume zum Opfer fielen, berichtet Martin Schreiner. Dem systemischen Ansatz der Stadt München unterstellt er ein großes Potential. Man wolle hier „nicht in die Falle tappen und radikal agieren sondern eine dauerhafte Basis schaffen.“
Dies inkludiert auch die Schaffung einer rechtlichen Grundlage, denn das Straßenverkehrsordnungsrecht sei hierfür ungeeignet. Deshalb sieht Martin Schreiner eine Umwidmung des Straßenraumes als zwar zeitintensiveren, jedoch gangbaren und rechtssicheren Weg, um auch Konzepten wie Shared Space und Multicodierung den Weg zu ebnen.
Der öffentliche Raum als gesellschaftlich wichtiger Streit- und Diskussionsraum
Konzepte, die gerade auch für Landschaftsarchitekt:innen wie Felix Lüdicke ein spannendes Spielfeld sind. Er versteht den öffentlichen Raum als für gesellschaftlich wichtigen Streit- und Diskussionsraum. Deshalb muss der Raum zwischen den Fassaden als Gemeinschaftsraum behandelt und in einem menschlichen Maßstab betrachtet werden. Nur so könne man neue Ideen entwickeln und Atmosphären schaffen. In diesem Zusammenhang fordert Martin Schreiner auf mithilfe von Bildern die Vorstellungskraft zu beflügeln und Lust zu machen auf Veränderung. Dabei spielt auch Grün eine wesentliche Rolle. Wie aber können temporäre Maßnahmen der Forderung nach mehr und dauerhaftem Grün in der Stadt gerecht werden? Felix Lüdicke sieht sie als Werkzeug, um Räume zu sichern für zukünftige Umgestaltungen, die eine durchdachte Planung erfordern, die etwas Zeit braucht und Flächen an den Ausbau der E-Mobilität und die dafür erforderliche technische Infrastruktur verliert, die mit einer hohen Geschwindigkeit ausgebaut wird. Generell müsse es einen Paradigmenwechsel in der Planung geben, denn Infrastruktur lässt keinen Platz für Bäume. „Baumsparten müssen Vorrang haben!“ fordert Lüdicke entschieden, denn „die Bäume, die in 20 Jahren den wichtigen Schatten spenden sollen, müssen jetzt gepflanzt werden“. Auch Jörg Spengler fordert eine schnellere Umsetzung von Baumpflanzungen. Zurzeit sei es einfacher Radwege zu bauen.
Und Christine Hannemann ergänzt, dass Hitze maßgeblich die Geschwindigkeit der Entwicklung bestimmen wird, denn Kommunen müssen auf die gesundheitlichen Folgen reagieren.
In der anschließenden Publikumsdiskussion “outet“ sich Felix Lüdicke als Sozialromantiker und plädiert für den Vorgarten, der aufgrund der über die Jahrzehnte gewachsenen Bedeutung der Mobilität, verschwunden ist und aber als Zwischenraum, Kontaktzone und Ort der Kommunikation einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann.
Er unterstützt damit Christine Hannemann in ihrer These, dass die Gesellschaft im öffentlichen Raum zusammenwächst und deshalb der immer begrenzter werdende Raum in der Stadt nach zeitgemäßen Prioritäten neu verteilt werden müsse. Beide erinnern auch, dass die Diskussion im ländlichen Raum eine ganz andere ist und dort nach anderen Parametern bewertet werden müsse.
Ein weiterer Beitrag aus dem Publikum weist auf die Fehlanreize hin, wie etwa steuerlich geförderte Dienstwägen, die letztendlich zu einem „Parkplatz-Overkill“ führe. Und Stadtratsmitglied Paul Bicklbacher empfiehlt laut zu sein, denn Leute würden immer erst dann hellhörig werden, wenn der erste Bagger anrollt. Christian Horn zieht ein positives Fazit am Ende der Diskussion und verspricht die Bereitschaft offen zu sein für Veränderung, sofern Mitgestaltung und Einbeziehung im Prozess ermöglicht werden.
Neben dieser Annäherung zwischen Planern, Politik und Gewerbetreibenden brachte der Abend viele weitere spannende Aspekte hervor, zu welchen man sich auch nach dem offiziellen Teil in lockerer Bar-Atmosphäre weiter austauschte. Besonders freuen wir uns, dass neben Kolleg:innen aus der Landschaftsarchitektur, diesmal verstärkt verwandte Disziplinen und die interessierte Öffentlichkeit vertreten waren. Sehr begrüßt wurde auch die Teilnahme von Cornelius Mager, dem ehemaligen Leiter der Lokalbaukommission München sowie von Paul Bickelbacher aus dem Münchner Stadtrat.
Die AG Impulse richtet ein besonderes Dankeschön an
- die Podiumsgäste Prof. Christine Hannemann, Mareike Schmidt, Felix Lüdicke, Jörg Spengler, Christian Horn und Dr. Martin Schreiner für ihre vielseitigen Blickwinkel auf die Thematik
- Andreas Rockinger für die Moderation
- Elisabeth Auer, Geschäftsstellenleiterin des bdla Bayern und Vorstandsmitglied Doris Grabner für den tollen organisatorischen Support
- die Firma RINN für das Sponsoring unserer Veranstaltung
- die Bayerische Architektenkammer für die Unterstützung als Kooperationspartnerin
- die Perle: Mucbook Clubhaus & Steinchen Kulturcafé für die Gastfreundschaft
- alle Zuhörer:innen und Mitdiskutierenden im Publikum für die rege Teilnahme
Die dritte Ausgabe von LAtalks zum Thema „Grüne Gentrifizierung oder die Frage nach dem sozialen Grün“ findet am 08.05.2024 in der Perle in München-Laim statt. Alle Infos dazu finden Sie hier.
Autorin: Nicole M. Meier, Vorstandsmitglied bdla Bayern, Leiterin der AG Impulse und Initiatorin der LAtalks. Salongespräche
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