Nachrichten

Ästhetisch urteilen

Platz für Starkregen in den großen abgesenkten Wiesenflächen – Klimaanpassung auf Dänisch. Nachhaltige Regenwasserbewirtschaftung in Kirkebjerg. © Thorbjørn Hansen für gruppe F Freiraum für alle

UI-Optionen: Sponsorenfeld
Anzeige Text im Grid: Nein

Gestaltung zwischen Biodiversität und Klimaanpassung

Von Gabriele Pütz

Ereignisse wie Hitzewellen oder Starkregen sind im heutigen Klima keine Extremereignisse mehr, »da sie nicht mehr extrem selten vorkommen« (Friederike Otto 2017). Wir sind gehalten, der »Kulturgeschichte des Klimas« (Wolfgang Behringer 2019) nicht nur ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, sondern der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch einen Richtungswechsel zu begegnen.

Wie kann die Landschaftsarchitektur diesen Richtungswechsel gestalten, Freiräume schaffen und bewahren unter den einschränkenden Bedingungen der Klimaveränderungen und der Biodiversitätskrise? Wie formulieren wir Bilder der Zukunft, die stärker sind als die angstbesetzte Vermeidung von Gefahren durch Verbote in der Gegenwart?

Eine Landschaftsarchitektur des Anthropozän gelingt nicht allein durch die Einsicht in notwendige Einschränkungen. Vielmehr bedarf es wirksamer Anregungen: einer ästhetisch vermittelten Offenheit und Neugierde auf Veränderungen.

Intrinsische Motivation ist erforderlich, um aktiv am Wandel unserer Gesellschaft teilzuhaben, und somit an den sich verändernden Erscheinungsbildern unserer Natur mit Blick auf die Herausforderungen biologische Vielfalt, Klimaschutz und Klimaanpassung.

Natur als Produkt, Prozess und Bild

Die Ausprägung der konkreten Natur ist fast überall Resultat menschlicher Aneignungsprozesse, das Produkt von Arbeit, sowohl in den Agrargesellschaften als auch in der Industriegesellschaft.

Zugleich wird Natur als Bild gesehen, als ein Produkt ästhetischer Wahrnehmung. Natur als Angeschaute, als ästhetisch vermitteltes Bild, bietet per Geschmacksurteil Raum für Emotionen und Assoziationen. Das Bild schafft Freiraum für Interpretationen, neue Sichtweisen. Im »freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes« (Immanuel Kant 1974), im ästhetischen Urteil, werden kreative Prozesse angeregt und freigesetzt. Ein »Begreifen« am konkreten Objekt der Anschauung, dem Ort, wird möglich.

Die Aneignung (Natur als Produkt) und die ästhetische Wahrnehmung von Natur (Natur als Bild) stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Das, was als schöne Natur empfunden wird, ist keine Konstante, sondern hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Die schöne Natur ist also keine absolute, vom Menschen unabhängige Kategorie, sondern das Produkt menschlicher Anschauung. Was jeweils als schöne Natur gesehen wird, steht im unmittelbaren Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und damit auch zu den gesellschaftlich determinierten Aneignungsprozessen von Natur.

Korrelieren reales und erwartetes Natur- und Landschaftsbild, wird jenes in der Regel als schön empfunden. Divergieren beide, muss um das Schönheitsempfinden mittels ästhetischer Bildung und gestalterisch-künstlerischer Vermittlung gerungen werden. (vgl. Gabriele Pütz 2002)

Haben wir die passenden Bilder für die heutige kulturelle Transformation, für die Landschaften des Anthropozän?

Anhand welcher Naturbilder, Parks, Gärten und Landschaften können wir unsere Kultur im Übergang in das postfossile Energiezeitalter zu verstehen versuchen? Die notwendige Transformation vor allem über Verbote, Verzicht und Einschränkung unserer Lebenswelt zu vermitteln, ist weder wünschenswert noch würde dieser Weg gesellschaftliche Akzeptanz finden und auch keine intrinsische Motivation freisetzen. Dies zeigt sich sehr deutlich in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Naturbasierte und technologische Maßnahmen der Klimaanpassung überzeugen nur, wenn sie ästhetisch vermittelt als Vielfalt an neuen Möglichkeiten, kulturellen Bereicherungen und wirtschaftlichen Perspektiven erfahren werden.

Hochgewachsene Gräser, in der Mitte eine Hirsch-Skulptur, dahinter Plattenbauten
Wohnumfeldgestaltung Schorfheide, Berlin. Geschichten erzählen: Durch die Idee der Bürger:innen, »lasst uns die Schorfheide in das Schorfheideviertel nach Marzahn holen«, wurde eine gestalterische Idee möglich, die einem Quartier im seriellen Wohnungsbau einen Charakter gibt, die Identität stiftet und glaubwürdige Bezüge herstellt. © gruppe F Freiraum für alle

So kann die nach dem Hochwasser nicht erneut bebaute Flussaue eine solche Antwort sein, wenn sie zugleich im Sinne der Bewahrung des Naturschönen und der Biodiversität auch ästhetisch als schön wahrgenommen wird. Aber auch technische Bauwerke wie Windkraftanlagen gehören zu unserer postfossilen Kulturlandschaft. Auch deren Akzeptanz gilt es, über die ästhetische Betrachtung zu vermitteln.

Von besonderer Bedeutung für die Landschaftsarchitektur ist es dabei, nicht allein auf punktuelle Effekte zu schauen, sondern auf beeinflussbare Ursachen und komplexe Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Und da werden der Versiegelungsgrad, die Speicherfähigkeit unserer Freiräume und die pflanzliche Vielfalt in den gestalteten Räumen zu Mehrfachantworten auf Polykrisen: Schattenspender, Wasserspeicher und lebenswerter Funktionsraum, schön wie nie!

Das ästhetische Urteil

Das ästhetische Urteil sagt etwas darüber aus, ob wir etwas als schön empfinden oder nicht. Schönheit ist kein messbares Angebot, sondern liegt im Auge der/des Betrachtenden, basierend auf Vernunft (Rationalität) und Verstand (kulturelle Prägung, Moral).

Wenn ich das Geschaffene, z. B. den Freiraum, nicht allein durch die Brille der Vernunft betrachte, sondern eine Szenerie zweckfrei im freien Spiel der Einbindungskraft auf mich wirken lasse und ich dabei Assoziationen auslöse, empfinde ich das als schön. Ich beurteile also etwas als schön, wenn ich das Gesehene mit meinen Werten, meinem Wissen und meinem kulturellen Hintergrund in Verbindung bringen kann, es also für mich anschlussfähig ist und gleichzeitig neue Zusammenhänge eröffnet.

Wie kann ich als planende/gestaltende Person solche ästhetischen Urteile ermöglichen?

Ziel ist es, die Einbildungskraft anzuregen. Eine Möglichkeit besteht darin, Narrative zu nutzen, mit dem Freiraum Geschichten zu erzählen. Indem wir Freiräume gemeinsam mit den Nutzenden entwickeln, die Wünsche und Sehnsüchte der Nutzenden herausarbeiten und gleichzeitig ökologische Erforderlichkeiten vermitteln, werden regionale oder nachbarschaftliche Identitäten fortgeschrieben. Es entsteht eine Verbindung zum Raum und damit eine gefühlte Verantwortung.

Oft fehlen allerdings die kulturell verknüpfenden Elemente, auch weil die Zusammenhänge von Kreisläufen, biologischer Vielfalt und  Koexistenzen vielen Menschen nicht bewusst sind und somit auch nicht assoziiert werden können. Wie können Landschaftsarchitekt:innen darauf reagieren? Wir können beispielsweise Naturerfahrung durch Spaziergänge im Rahmen von Partizipationsprozessen anbieten.

Das ästhetische Urteilsvermögen ist eine kulturelle Errungenschaft und entsteht mit der Aufklärung. Verknüpfungen entstehen durch assoziativ hergestellte Verbindungen zwischen dem, was ich sehend wahrnehme, und dem, was ich weiß, was ich kenne und für richtig oder falsch halte. Diese Werte beruhen auf kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen. Im freien Spiel der Einbildungskraft erzeugt das ästhetische Urteil einen gemeinsamen kulturellen, moralischen und rationalen Hintergrund. Der Austausch über Assoziationen in der ästhetischen Betrachtung erleichtert die Verständigung mittels individuell hergestellter Verknüpfungen und Erkenntnisse und fördert den Gemeinsinn.

älterer Mann sitzt auf Parkbank
Leise-Park, Nachnutzung eines Friedhofs als öffentliche Grünanlage. Beim Spazierengehen auf einem aufgegebenen Friedhof in Berlin entstand das Narrativ eines lebendigen Ruheortes. Ein Rückzugsort für Menschen an dem der Natur in Form von Wildnis ein Stück Freiheit gegeben wird. Geschichte, Natur, aktive und ruhige Nutzungen gehen eine neue, überraschende Verbindung ein, die ästhetisch überzeugt. © gruppe F Freiraum für alle

Das ästhetische Urteil ist kein objektives Urteil, aber auch nicht beliebig. Es ist intersubjektiv. Menschen können sich darüber verständigen, ob sie etwas als schön beurteilen. Und sie können sich darüber austauschen, warum sie es als schön beurteilen, indem sie ihre Assoziationen und die neu erkannten Verknüpfungen, die die Betrachtung des Objektes bei ihnen auslöst, anderen mitteilen und mit anderen darüber diskutieren. Somit lässt sich über Schönheit trefflich streiten. Dieses Streiten im produktiven Sinne erlaubt uns den Austausch darüber, was die Betrachtung eines Gartens, einer Landschaft, eines Windparks – in Realität wie im Entwurf – bei uns auslöst und welche Assoziationen wir damit verbinden.

So kann die Diskussion über Schönheit ein gemeinsames Vokabular bieten, um über Unterschiede in Überzeugungen, Werten und Wertorientierungen zu diskutieren. Dies kann in partizipativen Prozessen zu einem gegenseitigen Verständnis von Gruppen mit unterschiedlichen Hintergründen beitragen.

Wie muss aber nun ein Raum, eine Kulturlandschaft gestalten sein, damit sie als schön empfunden wird? Diese Frage stellt sich vor allem für solche neu entstehenden Räume, die Lösungen für aktuelle gesellschaftliche Erfordernisse der Klimaanpassung oder der biologischen Vielfalt bieten, wie nach dem Prinzip der Schwammstadt gebaute Freiräume. Denn diese entsprechen nicht den klassischen seit Jahrhunderten tradierten Park- und Landschaftsbildern. Ein Beispiel ist die veränderte Wahrnehmung von Brachflächen, die auf den ersten Blick häufig nicht als schön wahrgenommen werden. Über das Narrativ der Wildnis gelingt dann jedoch die ästhetische Vermittlung. Der ungewohnte Blick auf die Schönheit von Brachen kann mittels gestalterischer Elemente geschult werden. Derlei Akzentuierungen öffnen Freiräume für Kreativität und Fantasie. Die gestalterische Intervention regt an, den Ort aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, das Vorhandene schön zu finden. Zur Umsetzung dieses Ansatzes sind keine aufwändigen Umwandlungen der Stadtnatur-Flächen nötig. Das Vorgefundene wird lediglich durch einzelne gestalterische Akzentuierungen ästhetisch überhöht, Gegensätze werden sichtbar und neue Bilder verweisen auf Zusammenhänge dynamischer Landschaftsräume.

Die funktionale Kunst

Das ästhetische Urteil ist eine kulturelle Errungenschaft, die in Interaktion zwischen dem kulturell und sozial geprägten Subjekt und dem betrachteten Objekt entsteht. Auch das von Kant benannte »interesselose Wohlgefallen« ist nicht voraussetzungslos. Dennoch unterscheidet sich die Empfindung des Schönen (interesseloses Wohlgefallen) von der Empfindung des Angenehmen (den Sinnen gefallend) und des Guten (moralisches Urteil). In einer überzeugenden Freiraumgestaltung sollte das Angenehme und Gute gemeinsam mit dem Schönen angestrebt werden. Das Schöne adressiert damit die Vermittlungsebene von Ideen, die intersubjektive Zustimmung. Und stiftet so Gemeinsinn.

Landschaftsarchitektur ist somit eine funktionale Kunst (Mikroklima, Wasserhaltung, Artenvielfalt etc.) ebenso wie eine Ermöglichung angenehmer Empfindungen, eine Anregung der Sinne. Und Landschaftsarchitektur beansprucht, das Schöne, die Beistimmung im ästhetischen Urteil zu erreichen.

Kinder klettern und spielen auf Spilezeug-Skulptur aus Holzstämmen
Leise-Park, Nachnutzung eines Friedhofs als öffentliche Grünanlage. Kinder spielen im Baumstamm – Mikado. © gruppe F Freiraum für alle

Wichtig dafür ist der Beitrag der Landschaftsarchitektur zur ästhetischen Bildung. Die Bilder im Kopf, die traditionell als schön empfunden werden, sind eine Folge dessen, was mittels Bildung als schön vermittelt wird, was bisher als schön erfahren wurde und was den eigenen und gesellschaftlich vermittelten Werten entspricht.

Mit den Veränderungen des gesellschaftlich Anstrebenswerten verändern sich auch diese Bilder und Urteile. Die Landschaft als gestaltete Natur bietet da kulturelle Verknüpfungselemente, die aufgrund der Entfremdung von der Natur (wenig konkretes Naturerleben, Leben in virtuellen Welten oder in naturfernen Quartieren) gestärkt werden müssen, um Assoziationen und Verknüpfungen im freien Spiel der Einbildungskraft zu erzeugen. Konkretes Naturvielfaltserfahren in der Gesellschaft zu fördern, zum Beispiel durch die nachhaltige Gestaltung von Kita- und Schulfreiflächen, gelingt, indem biodiverse Umgebungen zum unmittelbaren Lern- und Erfahrungsort gemacht werden, in dem ich Wildnis, Pflanzen, Tiere, Regen, Sonne, Matsch täglich erfahre.

Natur ist eine kulturelle Idee.

Was wir als schöne Natur sehen, hat sich im Laufe der Geschickte immer wieder verändert und entspricht unserer Idee des lebendigen Werdens und Vergehens. »Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist.« (Ritter 1963, S. 150)

Die Dynamik von Natur wird uns bewusst, indem Bilder der Veränderung erzeugt werden, indem Kontraste zwischen Bewahrung, zyklischer Wiederkehr und dynamischer Entwicklung als Schönheit ästhetisch vermittelt werden.


Literaturverzeichnis

  • Arjen E. Buijs, 2009: Lay People’s Images of Nature: Comprehensive Frameworks of Values, Beliefs, and Value Orientations, Society and Natural Resources, online 417-432, DOI: 10.1080/08941920801901335
  • Behringer W. 2019: Kulturgeschichte des Klimas – Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München.
  • Kant I. 1974: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/Main
  • Kornhardt K., Pütz G., Schröder T. Hrsg. 2002: Mögliche Räume – Stadt schafft Landschaft, Hamburg 2002.
  • Otto F. 2019: Wütendes Wetter -Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwaser und Stürme, Berlin.
  • Otto F. 2017: Attribution of weather and climate events. In: Annual Review of Environment and Resources 42, 2017,627–646.
  • Pütz G. 2002: Schönheit Sinn ohne Verstand – Zur Bedeutung des Ästhetischen in der Landschaftsarchitektur, Freising.
  • Pütz G. 2002: Inszenierung der Landschaft – Chancen und Gefahren, S. 43–55, in: Berliner Debatte Initial 13 (2002) 4, Berlin
  • Pütz G. 2007: Die Lausitz als Logo? Landschaften zwischen Ausbeutung, Aneignung und Aufklärung. In: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hrsg.) Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II Landschaftsgestaltung im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Nutzen, Kassel 2007.
  • Ritter J. 1963: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In Ritter J. 1974: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main.

Autorin: Gabriele Pütz, Landschaftsarchitektin bdla, gruppe F Freiraum für alle GmbH, Berlin. Der Text erschien in der bdla-Verbandszeitschrift "Landschaftsarchitekt:innen" 1/2024.

Latitude: 0
Longitude: 0

bdla Newsletter

  • regelmäßig
  • relevant
  • informativ