Nutzungsreichtum für alle
Von Barbara Willecke
Im Dreiklang der Nachhaltigkeitsparameter Ökologie, Ökonomie, Soziales hat die soziale Leistungsfähigkeit von Freiräumen das gleiche Gewicht wie die ökologische und die ökonomische Leistungsfähigkeit.
Verantwortung und gesellschaftliche Relevanz
Indem Freiräume als soziale Infrastruktur betrachtet werden, wird der Blick auf die sozialen Aspekte und Potentiale von Freiräumen gerichtet. Damit wird die gesellschaftliche Notwendigkeit von Gerechtigkeit in der Vielfalt von Nutzungen, der gerechten Widmung von Budgets und Flächenressourcen sichtbar und wichtig. Zudem gewinnen Methoden und Prozesse an Relevanz, die sozial leistungsfähige Freiräume gesellschaftlich divers verhandeln, beschließen, erzeugen und letztlich auch schützen.
Sozial nachhaltige Lösungen in bisweilen harten Kämpfen um die Ressourcen Landschaft und städtischer Freiraum rücken aktuell in den Fokus von Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Freiraum als soziale Infrastruktur kann da ein wichtiges Argument für den Erhalt und die Inwertsetzung von Freiräumen sein.
In diesem Sinne erscheint auch die gesellschaftliche Relevanz und Leistungsfähigkeit unseres Berufsstandes in einem neuen Licht; Landschaftsarchitektur ist nicht nur als nettes »ad on« und Freiräume als im Zweifel verzichtbares »nice to have« zu betrachten. Hier vollzieht sich ein Wandel, denn unsere Profession kann und muss ihrer neuen Verantwortung für Flächen, Budgets und Nutzungsbedarfe gerecht werden.
Barbara Willecke
Fragen und Strategie
Die gesellschaftlichen Dynamiken machen es notwendig, Prozess-und Projekterfahrungen in der Freiraumplanung zu teilen und interdisziplinär zu arbeiten. Bevor es Antworten geben kann, sind fortlaufend Fragen zu stellen, die Freiräume als soziale Infrastruktur in den Blick zu nehmen.
- Wie umgehen mit dynamischen gesellschaftlichen Prozessen, die ganz konkret Veränderungen z. B. in Alltag, sozialen Rollen, Erwerbs- und Familienarbeit mit sich bringen – in unterschiedlichen Lebensphasen, vor dem Hintergrund diverser kultureller und religiöser Werte und mit Blick auf alle Nutzungsgruppen?
- Wie die Bedarfe der Menschen erfahren, ernst nehmen, integrieren, aber gleichzeitig soziale Rollen nicht zementieren und Zuweisungen vermeiden?
- Wie können nutzungs- und nutzungsgruppenorientierte Prozesse und Planungen die Regel werden, statt Ausnahme zu sein?
- Wie lässt sich räumliche Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit in Politik, Verwaltung, Profession und Gesellschaft verankern?
- Welche Disziplinen können über die Landschaftsarchitektur hinaus Beiträge zu Freiraumprojekten leisten? Wie können hier disziplinübergreifend Prozesse und Planungen orchestriert werden?
- Wie können Projekterfahrungen fruchtbar gemacht werden? Wie kann eine Langzeitwirkung, eine soziale Tragfähigkeit über einen langen Zeitraum erreicht werden?
- Wie können soziale Bedarfe umfassend, nachhaltig und zeitlos in Raum und Gestalt übersetzt werden?
Unterschiede sind normal
Um Freiräume sozial in Wert zu setzen, muss auf allen Ebenen verstanden und berücksichtigt werden, dass sich Bedarfe generell und damit auch Ansprüche an Freiräume mit den Lebensphasen der Nutzer:innen verändern. Deren Alter, Geschlecht, Förderbedarf, soziale und kulturelle Hintergründe erzeugen Bedarfe, die im öffentlichen Raum bzw. Freiraum allgemein berücksichtigt werden müssen. Soziale Infrastruktur entsteht aus dem Wissen um konkrete, ortsbezogene Bedarfe aller, also auch potentieller Nutzungsgruppen.
Planung sollte zunehmend eine Auseinandersetzung damit sein, was die Nutzer:innen eines Ortes in ihrer Vielfalt brauchen und was ihr Freiraum zur Alltagsbewältigung leisten kann und muss.
Barbara Willecke
Stadt invers
Betrachten wir die Stadt oder auch ländliche Räume invers, also als Grünplan und nicht als Schwarzplan (der Gebäude), wird deutlich, wie bedeutend die Freiräume allein flächenmäßig sind. Schaut man dabei in die Zukunft, denkt z. B. an Forderungen nach kleineren Wohnungen und weniger Verdichtung, müssen Freiräume künftig soziale Lebensräume sein, die als Kompensationsflächen genutzt werden können.
Während der Pandemie wurde für alle eine Realität erlebbar, die sonst nur Menschen mit eingeschränktem Einkommen als Alltag kennen. Freizeit, Erholung, Sport und Spiel, soziales Miteinander fanden zwangsweise im direkten Wohnumfeld, im Freiraum statt. Die soziale und räumliche Qualität von Freiräumen (nicht nur in der Stadt), ihre Alltagstauglichkeit für alle Altersgruppen, alle gesellschaftlichen Schichten war unmittelbar entscheidend für die individuelle Lebensqualität und das soziale Miteinander aller.
Wenn
- wir nicht mehr in die Welt fliegen können, sondern uns vor der Tür erholen, arbeiten, treffen, Ruhe finden, Kinder betreuen, arbeiten wollen,
- wir Urlaub im Park machen,
- wir in Wald und Feld in der Nähe den Blick schweifen lassen,
- wir unseren Mitmenschen begegnen wollen und Austausch im Wohnumfeld suchen,
- sich im weitesten Sinne ein »draußen-zu-Hause-sein« etabliert,
- Menschen mit unterschiedlichen Werten, aus verschiedenen Kulturen in Kontakt kommen,
müssen unter anderem
- die Lebenswirklichkeiten aller gesellschaftlichen Gruppen differenziert berücksichtigt und wertgeschätzt werden,
- Gender, Diversity und Inklusion als objektive Kriterien für Entscheidungen, Flächen, Budgets und Planungsziele in den Fokus rücken,
- die räumliche Gerechtigkeit und soziale Leistungsfähigkeit als Prinzip der Vorsorge umgesetzt werden.
Dies erfordert die präzise Hinwendung zu den Bedarfen der Menschen und die Beschäftigung damit, wie sie Räume lesen bzw. sich von Räumen ansprechen lassen und diese nutzen können.
Raum als Sprache, Freiraum spricht
Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist stetigem Wandel unterzogen, vollzieht Anpassungen, ist Anpassungen unterworfen. Freiräume sind Teil dieser Wirklichkeit, wandeln sich, übernehmen neue Rollen, können neue Aufgaben übertragen bekommen. Freiräume können und müssen Orte offener Prozesse sein, Unterschiede berücksichtigen, ohne soziale oder kulturelle Zuschreibungen und Rollen zu zementieren.
Auch Sprache bildet Wirklichkeit ab. Wir erleben gerade, dass sich u. a. aus der Lebensrealität von Frauen ein Bedürfnis nach Änderungen in der Sprache ergeben hat, die nun mehrheitlich angenommen und umgesetzt werden. Eine gender- und diversitygerechte Sprache bildet das gegenwärtige Verständnis von Gerechtigkeit ab und stellt gleichzeitig Forderungen an Gesellschaft und Wirklichkeit. Sie gibt Neuem Raum, eröffnet neue Wahrnehmungen und damit Chancen. Sprache ist immer im Fluss und so dynamisch wie gesellschaftliche Prozesse.
So wie die Sprache Bedeutungen transportiert, sich diesen anpasst und Kommunikation und Aushandlung ermöglicht, spricht auch der Raum, sprechen räumliche Strukturen, wenden sich seine Elemente zum Menschen. Dieser fühlt sich bestenfalls verstanden, gemeint, gesehen und ernst genommen, erkennt Chancen und Möglichkeiten, Neues und sich selbst auszuprobieren.
Das gesamte Vokabular, wie Menschen Raum lesen und sich in diesem organisieren, ist nicht trivial und erfordert das Wissen zum Beispiel um kulturelle Unterschiede und Bedarfe, die sich aus unterschiedlichen sozialen Rollen speisen.
Das präzise Ordnen von sozialräumlichen Strukturen, Grenzen und Übergängen, Schwellenbereichen, Benachbarungen etc. und eine Art Demut der Planenden ebnen den Weg zu sprechenden Räumen, deren Schönheit sich (auch) durch Nutzung entfaltet.
Barbara Willecke
Reichtum und Gerechtigkeit, den Blick weit stellen
Der Mensch muss im Zusammenhang mit Raum als territoriales Wesen betrachtet werden. Dort, wo Mangel oder die Bedrohung der eigenen Bedarfe empfunden wird, entstehen Konflikte. Die Lösung: Nutzungsreichtum für alle, auch auf kleinsten Flächen.
Räumlicher Reichtum und Reichtum an Möglichkeiten, an Ansprache, an Wertschätzung aller Nutzungsgruppen erzeugen Nutzungsdichte und damit soziale Kontrolle. Raum für Gerechtigkeit ist auf der kleinsten Fläche und erfordert komplexe Lösungen.
Wichtige Aspekte dazu sind:
- Das Miteinander ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen erzeugt eine weitreichende, vielfältige, positive soziale Kontrolle.
- Friedliche Orte entstehen dort, wo möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen anwesend sind. Aus dem Fehlen einzelner Gruppen entstehen Probleme.
- Probleme, die schwierigen Nutzungsgruppen zugeschrieben werden, sind in Wahrheit meist Probleme, die sich aus dem Raum bzw. aus Mangel an vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten ergeben.
- Wo Menschen sich gesehen, gemeint fühlen, treten sie leichter in Austausch. So kann Vielfalt Konkurrenzen und die Verteidigung von Territorien vermeiden.
- Auf die Auseinandersetzung mit den Bedarfen folgt die Übersetzung in Funktionen und schließlich in Form/Gestaltung (Form follows Funktion).
Proof of concept
Mehrwert und Wirksamkeit gender-, diversity- und inklusionsgerechter Beteiligungs- und Planungspraxis lassen sich besonders gut an sogenannten »schwierigen Orten« nachweisen, die beispielsweise vom Kriminalitätsschwerpunkt zum Ort friedlichen Miteinanders wurden oder vom gemiedenen zum geliebten Ort, zum »Wohnzimmer draußen«.
Dies gilt nicht nur für »Kiezorte«, sondern auch für alle anderen Raumkategorien. Das präzise Hinschauen, die Berücksichtigung der vielfältigen Bedarfe machen den entscheidenden Unterschied – beim Hausgarten wie beim Bahnhofsvorplatz, in Straßenräumen, auf Friedhöfen, bei Gedenkstätten, auf Dorfplätzen usw. Nutzungsvielfalt und die Vielfalt der Nutzer:innen machen Freiräume zu nachhaltigen, sozial erfolgreichen Räumen. Sozial erfolgreiche Freiräume wirken nicht zuletzt präventiv gegen Vandalismus und Kriminalität.
Gender-, diversity- und inklusionsgerechte Planung bedeutet nicht nur vielfältigen Mehrwert für die Freiräume, sondern auch die Stärkung der gesellschaftlichen Relevanz von Landschaftsarchitektur und damit von Landschaftsarchitekt:innen.
Die Balance zwischen Schwarzplan und inversem Plan, also zwischen bebautem und Freiraum, kann vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit von Freiräumen neu und anders verhandelt werden. Chancengleichheit, Vielfalt und Inklusion sind keine Sozialromantik, sondern eine leistungsfähige Strategie, auch im Aushandlungsprozess um Flächen und Budgets.
Was braucht es dafür in Zukunft
Im politischen Raum, in der Ausbildung, in Beteiligungs- und Planungsprozessen, hinsichtlich Budgets usw. sollten im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit von Freiraumplanungen und deren Pflege Aspekte wie die folgenden als Kriterien für Gender, Diversity und Inklusion auf allen Ebenen Anwendung finden:
- die Vielfalt von Nutzungsgruppen, deren Bedarfe und die soziale Leistungsfähigkeit von Freiräumen brauchen gleichberechtigt hohe Priorität in Ausschreibungen, Wettbewerben, Jurys, politischen Entscheidungen, bei Budgetverteilungen (Gender Budgeting);
- mehr Forschung, auch Evaluation neugestalteter Freiräume nach Kriterien von Gender, Diversity und Inklusion;
- mehr Wertschätzung: Gestaltung, Schönheit, Bedarfsgerechtigkeit und Nutzungsvielfalt schließen einander nicht aus;
- Selbstverständnis der Profession als dienend gegenüber gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen und Anforderungen;
- mehr Expertise zu Gender, Diversity und Inklusion auf allen Ebenen;
- Projekterfahrungen fruchtbar machen: Projektbudgets für Evaluierung, Begleitung und Nachsteuerung;
- Budgets für eine fachlich gute Pflege sind praktizierte Nachhaltigkeit. Sie erhalten die soziale Leistungsfähigkeit der Freiräume, denn Pflege wird von Nutzer:innen als Wertschätzung begriffen.
Ausblick
Gerade und besonders in Zeiten von Krisen (Wohnungskrise, Klimakrise, Krieg, Angst vor Einschränkungen etc.) können Freiräume nicht nur Kompensationsflächen, sondern wichtige Orte für positives gemeinschaftliches Erleben sein und damit viele auch innovative Lösungen vorwegnehmen oder ausprobieren. Freiräume können nicht zuletzt auch gesellschaftliche Innovationsräume sein.
In unserer Zeit stehen der Kampf um freie Räume, die Vielfalt berechtigter Bedarfe und die Gleichberechtigung aller Nutzer:innen im Fokus von Politik, Gesellschaft und Profession.
Wir Landschaftsarchitekt:innen können zukunftsweisende Beiträge zu den drängendsten Fragen unserer Zeit leisten. Wir sind aufgefordert, komplexe soziale und räumliche Zusammenhänge zu denken und zu entwickeln und damit einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag zu den Fragen der Zeit und der Zukunft zu leisten.
- Lesen Sie auch den Beitrag Freiraum als soziale Infrastruktur
Autorin: Barbara Willecke, Landschaftsarchitektin bdla, planung.freiraum barbara willecke, Berlin. Der Text erschien in der bdla-Verbandszeitschrift "Landschaftsarchitekten" 2/2022.
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